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Radiovortrag des Ehren-Korpsführers Ing. Arch. Robert Ulrich, gehalten am 22. Juli 1931 im "Radio Wien"

Die Bedeutung des Pfadinderwesens für Vaterland und Welt

Baden-Powell, der Gründer des Pfadfinderwesens, schreibt im Vorwort zu seinem Buche Scouting for Boys zur Erläuterung seiner Bestrebungen:

"Die Pfadfinderei kann als Ergänzung zum Schulunterricht aufgefasst werden und ist geeignet, gewisse Lücken auszufüllen, die in den üblichen Lehrplänen unvermeidlich sind. Mit einem Wort, es ist eine staatsbürgerliche Erziehung durch pfadfinderische Betätigung."

Die Erfahrungen, die in nun nahezu 25 Jahren in den verschiedensten Ländern gemacht worden sind, lehren, dass Baden-Powell nicht zu viel sagt, wenn er von staatsbürgerlicher Erziehung spricht.

Die erste Stufe ist die Ertüchtigung des Pfadfinders, denn ein gesunder kräftiger Mensch wird seinem Vaterlande von größerem Nutzen sein können als ein schwacher. Ihr dienen Wanderungen, Spiele, Lagerleben. Besonders letzteres hat sich in jeder Hinsicht als so vorteilhaft erwiesen, dass die meisten Jugendvereine das Lagern in ihr Programm aufgenommen haben. Es gibt auch tatsächlich kaum etwas besseres, als diesen wochenlangen Aufenthalt im Freien, Tag und Nacht, bei Sonnenschein und schlechtem Wetter. Der Aufbau und der Betrieb des Lagers erfordern mancherlei Arbeiten, Spiel und Sport füllen die übrige Zeit, so dass die Buben nach einigen Wochen sehnig und braungebrannt aus ihrem Indianerleben wieder in die Zivilisation zurückkehren. Die Küche müssen sich die Jungen selbst bauen, die Mahlzeiten selbst bereiten, es können daher nur einfache Gerichte zubereitet werden und die Erfahrung lehrt, dass gerade die einfache, die derbe Kost sehr bekömmlich ist. Bei der Errichtung seines Zeltes, beim Aufbau des Küchenherdes, beim Fassen einer Quelle steht der Pfadfinder immer wieder neuen Aufgaben gegenüber, die er mit den einfachen, ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und mit Phantasie lösen muss. So lernt er sich in jeder Lage zurechtzufinden, mit einfacher Kost, mit einem harten Lager zufrieden zu sein, kurz, er wird findig, abgehärtet und genügsam.

Darin liegt ja der große erziehliche Wert des Lagerlebens, dass es nicht nur der körperlichen Ertüchtigung dient, sondern auch wertvolle Charaktereigenschaften entwickelt. Da ist einmal die unbedingte Pflichterfüllung und das Ausharren bei einer Arbeit bis zum Schlusse. Wenn es beim Zeltbau regnet, so kann der Junge nicht nach Hause laufen, sondern er muss trotz des schlechten Wetters bis zum Abend eine Behausung zusammengebracht haben, in der er nächtigen kann. Und die Köche müssen an heißen Tagen, an denen der Aufenthalt am Herd bestimmt kein Vergnügen ist, ebenso kochen wie bei einem Unwetter, wenn das Wasser fußhoch in der Küche steht.

Tatsächlich beklagt sich nie ein Pfadfinder über eine solche Zumutung. Warum? Er sieht es eben als selbstverständlich an, dass seine Kameraden, unabhängig vom Wetter, etwas zu essen haben wollen. Darum kocht er ganz einfach. Auch bei Hitze oder Regen.

Damit sind wir bei einer zweiten wertvollen Charaktereigenschaft angelangt, die gefördert wird, beim Arbeitswillen für die Gesamtheit. Hiezu bietet das Lager wieder viel Gelegenheit, ja ohne dauernde Arbeit des Einzelnen für die Gemeinschaft ist ein Lager gar nicht möglich. Da sind die Milchholer, die in der Frühe zwei Stunden früher aus dem Bett müssen - und das Bett ist kaum irgendwo so angenehm wie im Lager. Dann die Köche, die sich ehrlich 24 Stunden für die anderen plagen müssen, bis sie abgelöst werden, die Kartoffel schälen, während die Kameraden spielen, die in Schweiß gebadet sind, während die anderen im See baden; da sind die täglich wechselnden Dienstjungen, die Wasser holen, Brennholz machen, alle Arbeiten verrichten, die in einem großen Haushalt notwendig sind.

Auch ein Gesetz gibt es im Lager: Die Lagerordnung. Sie regelt die Zeiten des Aufstehens, der Mahlzeiten und der Rast und was halt sonst nötig ist, um das gemeinsame Leben von 20, 30 in manchen Lagern über 100 Jungen auf begrenztem Raum zu regeln. Der Lagerführer hat, praktisch gesprochen, nur ein einziges Strafmittel zur Verfügung: Den Jungen nach Hause zu senden. Die Tatsache, dass dies unter tausend Fällen vielleicht einmal angewendet werden muss, beweist, dass die Art und Weise, wie die Lagergesetze gegeben und gehandhabt werden, die richtige ist.

Dieses Unterordnen der einzelnen Persönlichkeit unter die Bedürfnisse der Allgemeinheit durchzieht als roter Faden das ganze Pfadfindersystem. Alle Übungen und Spiele sind so aufgebaut, dass nicht der Einzelne Sieger oder Retter ist, sondern immer die Abteilung. Rekordleistungen werden nicht angestrebt, aber jeder soll sein Bestes hergeben. Auf den Willen zur Leistung kommt es vor allem an. So verspricht ja der Neuling auch nicht, ein guter Pfadfinder zu sein, sondern sein Bestes zu tun, einer zu werden. Welch schönes Ziel, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der jeder sein Bestes zu tun sich bemüht.

Im Lager, im Verbande seiner Gruppe sieht es der Pfadfinder leicht ein, dass er für die Allgemeinheit etwas leisten muss. Wenn er kochen lernt, lernt er es nicht für sich, sondern um seinem Lager nützlich sein zu können. Er muss aber einen Schritt weitergebracht werden. Er muss einsehen, dass alles was er ist, was er lernt, was er kann, nicht für ihn allein oder für ihn in erster Linie da ist, sondern dass er seine Kenntnisse und Fähigkeiten auch der Allgemeinheit widmen muss. Hier kommt das Prinzip der Hilfsbereitschaft zu Worte. "Tu täglich eine gute Tat", lautet eine Pfadfinderregel und sie besagt, dass man immer seine Augen offen haben soll, um zu erspähen, wo es Hilfe zu leisten gilt. Und wieder spricht es für die geniale Richtigkeit des Systems, dass die Jungen, die von Natur doch egoistisch eingestellt sind, solche Hilfsdienste gerne leisten, wenn sie vom Führer nur ein wenig geleitet werden.

Da ist eine Abteilung, die hat einen verkrüppelten, ehemaligen Pfadfinder, um den sie nun seit mehr als 10 Jahren sorgt. Da ist eine katholische Gruppe, die einem Missionsbischof ein Taufgeschenk für einen kleinen Afrikaner mitgibt und bittet, dauernd über das Schicksal des Täuflings unterrichtet zu werden, um an seinem Werdegang Anteil nehmen zu können. Zwei kleine, herzerfreuende Züge, sehr, sehr wenig, gemessen an der großen Not unserer Tage. Aber immerhin ein Lichtblick. Wer als Junge gelernt hat, seine persönlichen Wünsche zurückzustellen und sich einer Gemeinschaft einzuordnen, wer schon als Junge täglich um sich geschaut hat, wo seine Hilfe von Nöten wäre, der wird als Erwachsener gewiss ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden. Once a scout, always a scout, sagt das englische Sprichwort, auf deutsch: Einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder. Hätten wir nur viele, viele Mitbürger, die nicht in erster Linie an sich denken, an ihre Partei, an ihre Standesvorteile! Hätten wir nur viele, die immer und immer wieder versuchen ihr Bestes zu tun. Sicherlich würden wir diese schweren Zeiten leichter überstehen, sicher könnten wir mit größerer Zuversicht einer besseren Zukunft entgegenhoffen.

Darin erblicken wir Pfadfinder den großen Wert der Pfadfindererziehung für das Vaterland, dass wir junge Menschen erziehen, die zu Opfern für die Allgemeinheit, für ihr Vaterland bereit sind. Was sehen wir heute? Jeder sorgt zuerst für sich. Dann bildet er einen Verein mit seinen Standesgenossen, um sich möglichst viele Vorteile zu sichern. Die Verheirateten und die Ledigen, die Kinderreichen und die Kinderlosen, die Pensionsberechtigten und die Unversorgten, sie alle bilden Vereinigungen, um ihren Vorteil zu verteidigen. Wahrscheinlich muss das heute sein, es muss aber bestimmt nicht in Ewigkeit so bleiben. Wie es uns heute unfassbar erscheint, dass vor wenigen Jahrhunderten z.B. die deutschen Städte sich bekriegt und gegenseitig zerstört haben, so wird es hoffentlich in nicht zu ferner Zukunft unglaublich erscheinen, dass die Bürger eines Staates sich gegenseitig bekämpft haben. Wir Pfadfinderführer wollen mithelfen, dass ein Geschlecht heranwächst, das nicht nur an sich denkt, das nicht gedankenlos auf die Schlagworte einer Partei schwört, sondern ein Geschlecht, das vor allem "sein Bestes" tun will. Werden auch Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich sein, die einmal Pfadfinder waren, werden auch gute Kameraden bleiben.

Und so, wie wir gute Pfadfinderkameradschaft untereinander halten, auch wenn wir in verschiedenen Lagern stehen, so halten wir auch gute Kameradschaft mit den Pfadfindern in anderen Ländern. Wie eine Utopie klingt es vielleicht, dass wir uns heute, da die Zollschranken höher denn je sind und die politischen Vorurteile immer wieder das Misstrauen zwischen den Völkern wach erhalten, dass wir uns einbilden, auch den Völkern gegenüber, die Rolle eines Friedensbringers spielen zu können. Denn tatsächlich ist unser Bestreben kein geringeres. Ununterbrochen, das ganze Jahr hindurch, finden Pfadfinderbesuche zwischen den einzelnen Ländern statt und unsere Jungen sehen, dass auch jenseits der Grenzpfähle die Buben mit Murmeln spielen und ihre Freude am Bogenschießen haben. Warum sollen sie dann nicht gute Freunde sein, besonders wenn sie wissen, dass jeder sein Bestes tut? Wir wollen, dass sich die Pfadfinder aller Länder kennen lernen. Alle vier Jahre findet daher ein großes Lager statt, das letzte war im Jahre 1929 in England. 50.000 Pfadfinderjungen aus allen Weltteilen waren dort versammelt und wohl selten hat ein Wiener Bub Gelegenheit gehabt, seinen Tee in einem echten nordamerikanischen Wigwam einzunehmen und zwei Stunden später bei den Chinesen zu versuchen, sein Reisgericht mit zwei Stäbchen zu essen. Viele Freundschaften sind angeknüpft worden und überziehen wie ein Netz, dessen Maschen immer dichter werden, den ganzen Erdball.

In dem gleichen Maße aber, in dem wir es fördern, dass der Pfadfinder seine Brüder aus allen Erdteilen kennen und schätzen lernt, in dem gleichen Maße wirken wir dafür, dass unsere heimatliche Eigenart von unseren Buben gepflegt, dass sie jenseits der Grenzpfähle erkannt und gewürdigt wird. Es ist überwältigend, in einem Weltlager alle Völkerschaften vereinigt zu sehen, es gibt das Bewusstsein eines neuen Weltbürgertums. Aber gleichzeitig wissen wir, dass unser Herz nur e i n e Heimat kennt und grenzenlos liebt, unser Österreich mit seiner Donau, seinen Alpen und seinem Stephansturm.

Zweieinhalb Millionen Pfadfinder gibt es heute auf der ganzen Welt, und die Anzahl derer, die einst Pfadfinder waren und heute dem Knabenalter entwachsen sind, geht sicher über zehn Millionen. Alle diese Millionen leben unter dem gleichen Pfadfindergesetz, alle mit dem heißen Wunsch, ihr Bestes zu tun.

"Man braucht keine ausschweifende Phantasie zu haben", sagt Baden-Powell, "um vorauszusehen, dass in naher Zukunft bedeutende internationale Möglichkeiten aus dieser rasch wachsenden Brüderschaft erwachsen werden."

Wir Pfadfinder hoffen es zuversichtlich, dass wir auch das Unsere dazu beitragen können, dass der Menschheit der heißersehnte Weltfrieden gebracht und erhalten werde.

Die VI. internationale Führerkonferenz, die übermorgen in Baden bei Wien eröffnet wird und zu der die Vertreter von 27 Pfadfindervereinigungen aus allen Weltteilen kommen, soll ja auch ein Schritt zu diesem Ziele sein.

Wahrscheinlich ist der Weg weit, wahrscheinlich ist er steil, das soll uns aber nicht hindern, mit gutem Willen unser Bestes zu tun. Und der Friede auf Erden ward ja allen Menschen verheißen, die eines guten Willens sind.